Ich wollte nie Drachenfrüchte!!!

Home Office ist was Tolles. Erstens hat man seine Ruhe und nicht dauernd irgendwelche Unterbrechungen im Großraumbüro (gut: von einem/r der SitznachbarInnen angeblödelt zu werden, schlecht: die unfassbar laute Kaffeemaschine), und zweitens kann man bis Punkt neun zuhause entspannt aufwachen und herumfaulen, bis es an die Arbeit geht. Was ich getan habe? Ich hab mich höchst unökologisch in die Badewanne gelegt. Das Fenster im Bad war offen, und von draußen hörte ich nur die im Hinterhof wohnende Amsel. Kurz wurde mir klar: welch Luxus! Sechs Fenster meiner Wohnung gehen in einen Innenhof, der mir folgende Geräuschkulisse schenkt: Grillen in der Nacht, die Amsel in der Früh, kurz danach Kirchturmglocken, manchmal die Musik des Nachbarn (ich weiß immer noch nicht, welcher Nachbar, aber die Musik ist trotz munterer Stildurchmischung immer gut) und ganz selten, wenn der Wind gut geht, das Pfeifen von anfahrenden Zügen. Autoverkehr hört man nicht. Wow, dachte ich mir. Luxus. Und das mitten in der Stadt mit der Ubahn ums Eck. Mir gehts ja so gut. Im nächsten Moment freute ich mich, dass ich mich über sowas noch freuen kann. Dass es mir nicht um „was kauf ich mir heute Neues, über das ich mich kurz freu, und das ich anderen zeigen kann“ geht. Oder dass ich die „kleinen Dinge“ bereits übersehe, weil ich unbedingt nach Höherem strebe.

Und wieder im nächsten Moment fühlte ich mich saupräpotent wegen dieser Überlegungen. Warum? Weil meine Badewannenlektüre Kathrin Hartmanns „Wir müssen leider draußen bleiben“ war.

Wir muessen leider draussen bleiben von Kathrin Hartmann (c) Verlagsgruppe Random House GmbH, Muenchen

Wir muessen leider draussen bleiben von Kathrin Hartmann (c) Verlagsgruppe Random House GmbH, Muenchen

Knallhart von der ersten Seite weg beschreibt sie Armut in Deutschland, man liest von Beziehungsberechtigten der Tafel, die sich Einkauf im Supermarkt nicht leisten können, und davon, wie absurd das eigentlich ist, welchen Überschuss Supermärkte kassieren. Ein unfassbar starkes Buch, selbst nach den ersten sechzig Seiten. Seit Ewigkeiten hatte ich es am Stapel, es ist ein Rezensionsexemplar, und bin nicht dazugekommen, es zu lesen. Das, was Werner Kräutler so gut am Beispiel Primark erkannt hat, nämlich, dass die Mittelschicht sich durch ihr Konsumverhalten selbst abschafft, zeigt sie ganz allgemein auf: Ohne Armut kein Reichtum. Daher kein Interesse der Politik, die Armut zu bekämpfen. Das ganze eingebettet in eine Überflussgesellschaft, die mir auch jedesmal im Supermarkt zu denken gibt: Wann hab ich eigentlich im Sinne von Angebot und Nachfrage mal ganz offen nach 37 verschiedenen Erdbeerjoghurtsorten gefragt? Und wann ist in mir Anspruch entstanden, dass ich Samstag um 17 Uhr im Supermarkt noch ein volles Brotangebot finde? Ganz ehrlich? Nie! Nicht, dass ich mir jetzt kommunistische Zustände herwünsche, in denen es eine Sorte Erdbeerjoghurt, eine Sorte Vanillejoghurt und zwei Sorten Naturjoghurt oder genau zwei oder drei verschiedene Brotsorten (wenn überhaupt) gibt, aber wir gehen gerade zu weit, oder? Ich muss da in letzter Zeit immer an eine von mir sehr hochgeschätzte Verwandte denken, die bei einem solchen Gespräch über den Überfluss mal völlig nebenbei und nonchalant meinte: „Hochkulturen gehen unter. War immer schon so.“ Schluck.

Schön, dass für die Tafeln, die ehrenamtliche Versorgung von Bedürftigen mit Restprodukten aus den Supermärkten, so viel übrig bleibt, an die Mitversorgung jener Personen denken die Supermarktketten aber ganz sicher nicht, wenn sie so viel Angebot in die Regale sortieren lassen. Hartmann schreibt: „Mit Nachhaltigkeit hat das allerdings nichts zu tun – denn Überproduktion und Verschwendung sind die Grundlage für den Profit der Handelsketten. Lebensmittelhersteller produzieren immer 120 bis 140 Prozent des realen Bedarfs, damit Engpässe, Verkaufsschwankungen, Transportprobleme und andere Störungen ausgeglichen werden können. Ein gutes Viertel aller Lebensmittel wird als wissentlich für den Müll produziert.“

Und warum  ich mich saupräpotent fühlte, als ich meinen Hinterhof grad liebend bedachte? Schlicht und einfach, weil ich es konnte. Weil ich eine funkelnagelneue Nähmaschine im Nebenzimmer stehen hab, die ich mir geleistet habe, weil ich über Auto (halb, geteilt mitm Liebsten), Fahrrad, Roller und zwei (fast) gesunde Füße verfüge (Scheißknie…), weil ich eine Wohnung hab, in der man zu sechst auch wohnen könnte und trotzdem gäbs Platz, weil ich im Winter nicht frieren muss und ich, wenn ich Hunger habe, mir aussuchen kann, ob ich zu Lidl, Billa, Hofer, Spar oder Penny gehe, alle sind innerhalb von zehn Gehminuten erreichbar, oder mir aus meinem regelmäßig gelieferten Biokistl was leiste und mir auch einen Einkauf beim Merkur leisten kann (gut, nicht täglich, aber hin und wieder), ohne dass es meinem Konto wirklich weh tut. Die Personen, von denen Hartmann schreibt, zu denen gehöre ich nicht. Nicht falsch verstehen, ich schwimme echt nicht im Geld. Es ist nicht so, dass ich mir einfach mit einem Schnipp alles leisten kann, was gut und teuer ist. Aber ich komme im Alltag wirklich extrem gut aus, habe keinen Kredit laufen, keine Schulden, und hin und wieder geht es sich halt auch aus, mal 300 Euro für eine Nähmaschine abzuzweigen. Das ist unfassbarer Luxus! Obendrein bin ich komplett bobo, inklusive gerne mal im Augustin frühstücken gehen oder schnell mal ein Wochenende mit Freunden an den Hausmeisterstrand in Grado tschundern und sich über die Pizza am Eck beim Wirten, der „Fiskeeplattäää“ so nett ausspricht, freuen. Scheiße, mir gehts einfach nur fantastisch gut. Ich will damit nicht angeben, ich glaube eher, dass ich mit diesen Umschreibungen auch das Leben vieler meiner Freunde beschreibe (von denen einige weniger haben, andere unfassbar viel mehr – und bei letzteren bin ich mir nicht sicher, ob ich neidisch sein sollte).

Gleichzeitig schreibe ich über wahnsinnige Armut. Die aber weit weg ist. In Bangladesch, in Indonesien, in Pakistan. Hin und wieder merke ich auch: Hui, so weit weg ist die ja gar nicht, das passiert in der Slowakei beispielsweise ja auch! Nachbarland!

Nur wenn ich das Buch so lese, dann habe ich ein schlechtes Gewissen, dass es mir so gut geht. Dass ich mit meinem wirtschaftlichen Standing die Zielgruppe von neunzig Prozent aller Dienstleister bin. Aber genau deshalb finde ich das Buch auch so toll: Es regt dazu an, aktiv zu werden. Man liest es und denkt sich: Revolution. Alles anders machen. Konsumalternativen finden. Umverteilen. Und wann kommt endlich diese verdammte Vermögenssteuer bitte? Wann schafft sich die ÖVP bitte endlich selbst ab? Wann werden wir uns endlich alle solidarisieren und dieses verlogen-bürgerliche Unternehmerpolitikertum endlich mit Mistgabeln aus der Stadt jagen?

Ganz ehrlich: Aus mir wird kein Robin Hood werden. Ich kenne mich, ich bin keine Aktivistin. Ich krieg fast einen Herzinfarkt vor Angst allein schon bei dem Gedanken, wenn ich irgendwo einsteigen müsste, um im Müll nach Essbarem zu suchen. Und ich werd jetzt auch nicht aus falsch verstandener Solidarität mein Leben komplett umkrempeln. Ich will auch nicht jetzt einfach nur mal kurz drüber bloggen und damit mein persönliches soziales Gewissen beruhigen. Ich liebe meine Arbeit bei Greenpeace (hui, es ist neun, ich sollt fertig werden mit dem Beitrag), ich liebe es, keine Schulden zu haben, und ich liebe meinen Lebenstil, über dessen Luxus im Kleinen ich immer wieder Lobeshymnen singe. Aber auch ich Bobo kann meinen Teil beitragen: Ich kann mein Konsumverhalten entsprechend gestalten, und verdammt noch mal mein Maul aufreißen. Ein geringeres und vor allem gerechteres Angebot fordern. Und zwar nicht nur einmal, sondern dauernd. Laut. In alle Richtungen. Scheißüberproduktion, echt jetzt, die Nackenhaare stellts mir auf, allein schon, was das ökologisch bitte für einen komplett unnötigen Wahnsinn auslöst!!!

Hartmann beschreibt es anhand eines Beispiels: „(..) So wird aus dem „Vollsortiment“ ein Überangebot, das den Konsumenten als anspruchsvoll und „mündig“ adelt. Perfidestes Beispiel in diesem Zusammenhang: die Drachenfrucht. Das exotische Obst mit der pinkfarbenen Hülle und dem Fruchtfleisch, das Stracciatella-Eis ähnelt, sieht so attraktiv aus, dass Supermärkte gern ihre Obstabteilungen damit schmücken. Tatsächlich aber scheint die Frucht, die in Lateinamerika und Asien angebaut wird, nur als Lockmittel zu dienen. Haben will sie nämlich niemand. Die beiden Autoren Stefan Kreuzberger und Valentin Thurn haben bei den Recherchen zu ihrem Buch: „Die Essensvernichter“ (..) herausgefunden, dass diese Früchte, die in teuren Supermärkten bis zu fünf Euro kosten, zu 80 Prozent weggeschmissen werden.“

Das ist doch unfassbar bitte!!! Ich will keine Drachenfrüchte mehr!! Ich will ein Angebot, dass ich alle leisten können. Und wir, die Kunden, die vielleicht sogar mal aus Neugierde fünf Euro hinblättern würden, um die Drachenfrüchte zu kosten, die sind gefragt! Auf die hören die Supermärkte (bis zu einem gewissen Grad!). Wir müssen fordern, dass wir keine Drachenfrüchte mehr wollen!!!!

Ja, ich verpack meine Themen gerne ins Lustige, Selbstironische. Erstens, weil ichs oft wirklich so sehe, man kann dem Leben auch mit einem Augenzwinkern begegnen. Und viele schreiben mir, meine Art zu bloggen macht harte Themen einfacher zugänglich (was mich übrigens wahnsinnig freut, jedes einzelne Mal!). Aber manchmal, da muss es einfach volle Kanne sein. Immer voll drauf auf die Zwölf. Das ist dann Kathrin Hartmanns Job. Das Buch ist Wahnsinn. Allein schon mein schriftlicher Wutanfall nach nur sechzig Seiten, es ist unglaublich, was diese Zeilen in mir auslösen. Jeder zweite Satz lässt mir entweder meine Kinnlade zu den Knien wandern oder mich halb verzweifelt den Kopf schütteln. Wer sich also ein bissl für Konsumalternativen interessiert: Lesen. Und dann entsprechend handeln.

 

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11 Gedanken zu „Ich wollte nie Drachenfrüchte!!!

  1. Bettina sagt:

    Erstmal mal ein dickes Lob, dein Text hat mal wieder zum nachdenken angeregt. Wir haben schulden und müssen jeden Cent mehrfach umdrehen. Aber uns geht es gut …

    Immer wieder höhere ich in der Bekantschaft das Gejammer, machmal denke ich seht mal über eueren Tellerrand hinaus.

    Sobald ich das Buch gebraucht bekomme werde ich es lesen …

  2. Toller Text. Buch ist gleich auf meine Lesewunschliste gewandert. Und in einer Bibliothek in meiner Nähe ist´s sogar grad´ verfügbar … Da werde ich wohl heute noch mal hinmüssen;-).

    Viele Grüße aus Berlin,
    Anja

  3. EriksMama sagt:

    Ich bin auch kein Aktivist. Die einzige Macht, die man hat, ist die Macht als Konsument. Eben diesen ganzen überproduzierten Scheiss nicht mehr nachfragen. Auf dem Markt regionale saisonale Sachen kaufen, Kosmetik selber herstellen, bei der Bio-Frau um die Ecke einkaufen, keine Fast-Fashion mehr..

    Versuchen Dinge zu kaufen deren Herstellungsweise transparent ist.

    Ich bin auch erst am Anfang und habe noch einen langen Weg vor mir.

    Du hast da einen tollen Blog, für mich ist er schon zu einer täglichen Institution geworden:-)

    VG aus München,

    Katrin

  4. […] bin nur grad immer noch richtig angespitzt durch Kathrin Hartmanns Buch. Ich brauch keine Drachenfrüchte, ich brauch keinen Wellness-Mantel, und ich brauch vor allem […]

  5. Kati sagt:

    Drachenfrüchte taugen aber auch leider nur zum angucken, fotografieren oder abmalen, schmecken tun die leider nach nichts. Das Buch hört sich aber wirklich sehr interessant an, das wandert definitv auf meine “To Read”-Liste!

  6. Antonia sagt:

    Ich kenne Dein Dilemma gut. Zwischen westlichen Luxusleben und Weltverbessern klafft schon eine große Kluft. Dennoch ist nicht unbedingt jemanden geholfen, wenn Du aus Deiner 4 Zimmer Wohnung in eine 1Raum Wohnung ziehst (es sei denn, Du lässt eine große Flüchtlingsfamilie in deiner alten Wohnung leben). Du kannst nicht alles allein verbessern und Du musst dich nicht dafür schämen, dass es Dir besser geht als anderen. Aber Du solltest Dich dafür einsetzen, dass die Welt sich wandelt, dass Menschen politisch aktiv werden, damit die Ausbeutung anderer aufhört und die Welt ein wenig nachhaltiger wird. Soweit ich es Deinem Blog entnehmen kann, tust Du das bereits. Und das Aktivisten immer irgendwo einsteigen müssen, ist ein Märchen 😉

    LG, Antonia

  7. spreemieze sagt:

    Ich arbeite einem veganen Cafe, welches sich in einem veganen Supermarkt befindet. Wir legen wert drauf, dass wir möglich wenig Lebensmittel wegwerfen müssen. Mancmal ist das Brot bereits um 16 uhr ausverkauft, manchmal gibt es noch 5 Sorten um 19 uhr. Was glaubst du, wie viele Leute wütend vor mir stehen mit dem satz: UND WAS MACH ICH JETZT?????
    Ich denke mir immer: Konzept nicht verstanden.
    Aber unsere Gesellschaft versteht es nicht mehr, dass nicht alles immer zu jederzeit verfügbar sein kann – das ist schlimm!

  8. Dagmar sagt:

    Hm, ich befinde mich gerade voll im Dilemma. Eigentlich stimme ich voll zu. Aber ich koche nicht gern, ich bastle nicht gern und ich kann auch überhaupt nicht nähen. Auch bei mir steht eine Nähmaschine neben an. Die Garantie ist schon lange abgelaufen, ohne dass ich sie mal ansatzweise ausprobiert hätte. Ähm ja. Ich hätte gerne mal genug Zeit und Muße, um das in aller Ruhe auszuprobieren… aber so lange das nicht der Fall ist, und das wird noch sehr lange dauern, tut Hosen kürzen deshalb immer noch Mama.
    Also muss man eigentlich alles kaufen, wenn man nix selber machen kann. Immerhin sollte man da nicht zu jedem Schund greifen, so viel ist klar.

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