Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit

So, ich muss jetzt mal was Politisches loswerden. Ich wollte vor der Wahl nächsten Sonntag unbedingt noch einen brennenden Beitrag pro Van der Bellen schreiben.

Seit Tagen hatte ich mir das vorgenommen. Überlegt, was ich schreiben soll.

Aber ich bin massiv politmüde gerade.

Ich verstehs nämlich einfach nicht mehr, was weltweit (!) gerade politisch passiert. Auf den Philippinen wird ein Mann zum Präsidenten gewählt, der die Ermordung von Dealern quasi anordnet und finanziell belohnt, in den USA ein Mann, so fürchterlich, dass ichs gar nicht in Worte fassen kann, in der Türkei wird der Präsident gerade zum Diktator, der politisch nicht passende Medien zu- und politische Gegner einsperren lässt, in Großbritannien sitzt die ältere Generation lauter falschen Wahlversprechen auf und zerstört so durch den Brexit wahrscheinlich mindestens einer ganzen Generation die Zukunft und die Altersvorsorge, in Deutschland kassiert die AfD einen Wahlsieg nach dem anderen, und was bei uns passiert, ist überhaupt das Letzte. Der Wahlwiederholungsbeschluss des Verfassungsgerichtshofes war, wie international schon mehrfach analysiert, eine klare Fehlentscheidung. Aber es gibt keine Institution, die über dem Verfassungsgerichtshof steht, damit ist das ganze nicht mehr aufzuhalten. Selten habe ich mich hilfloser gefühlt.

Nach dem Trump-Sieg habe ich auf Facebook erstmal ein regenbogenfarbenes Einhorn gepostet. Und genau das war auch mein Gefühl: Massive Überforderung, mit dem da draußen mitzuhalten. In meiner Welt hielt ich es monatelang für komplett unmöglich, dass einer wie Trump ohne jegliches politisches Programm, dafür mit viel Populismus, wirklich Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika werden kann – jetzt ist er es. An dem Moment in der Früh, ich lag noch im Bett und schaute am Handy schnell auf eine Nachrichtenseite, in voller Erwartung, eine lachende Hillary Clinton (die auch nicht meine erste Wahl gewesen wäre, mein Herz schlug für Bernie Sanders) zu sehen, erinnere ich mich gut: Ich glaube, ich atmete einfach mal eine halbe Minute lang nicht. Ich hielt die Luft an und starrte ungläubig auf die Überschrift „Trump siegt“, unfähig, den Beitrag anzuklicken.

Ich habe als Kind die Wende in Deutschland und den ehemaligen Ostblockstaaten dank sehr politinteressierter Eltern sehr intensiv mitbekommen. Ich habe die Feiern in Ungarn erlebt, als man am Tag nach dem Umsturz „schon Schalter für den Roten Stern am Parlament oben nicht mehr fand“ (eine Lieblingsanekdote meines Vaters), ich sah meine Mama, wie sie vor dem Fernseher in Tränen ausbrach, als Bilder des Abrisses der Berliner Mauer gezeigt wurden. Ich hab dieses Ding mit dem Eisernen Vorhang, mit der Mauer einfach nie verstanden.

Nicht ganz unlogisch, dass ich mit 20 beschloss, mein Studium zu ändern und Zeitgeschichte ins Nebenfach zu geben. Es interessierte mich einfach brennend, wie es zu diesen Zuständen kommen konnte, die in Österreich 1933-1938 herrschten, und auch, wie es zum Bau des Eisernen Vorhangs kommen konnte. Was bewegte so viele Menschen dazu, mit so viel Hass gegen andere vorzugehen? Wie konnten ganze Bevölkerungsgruppen so wahnsinnig abgelehnt werden, dass es entgegen jeder Moral und jedes ethischen Bewusstseins ganz in Ordnung war, dass diese plötzlich kollektiv ohne Wiederkommen verschwanden? Irgendwann vor fünf, sechs Jahren meinte mein damals 95-jähriger Opa, dass er schon mal eine solche Situation erlebt hat, und dass ihn das gerade nicht sehr hoffnungsvoll für die Zukunft stimmt. Mir zog es innerlich alles zusammen, als er das sagte. Aber ich dachte trotzdem: Näääh, so weit kommts nicht, inzwischen sind wir wirtschaftlich viel zu sehr ko-abhängig international, und so etwas wie Vernichtungslager ist ja wohl bei uns nicht mehr machbar. Irgendwas müssen wir ja gelernt haben aus der Geschichte.

Ganz so sicher bin ich mir jetzt nicht mehr.

Ich habe momentan wirklich das Gefühl, ich schaue komplett hilflos und machtlos der Welt dabei zu, wie sie ins politische Elend rennt. Und wenn ich mich im Freundeskreis umhöre, bin ich nicht die Einzige, die einfach nicht mehr politisch denken will, weil sie sich überfordert fühlt. Populisten schaffen es, mit einfachen Schlagworten Menschen zu erreichen, die ihr politisches Wissen aus Heute und Österreich beziehen, und einen Hass auf „Bessergestellte“ zu instrumentalisieren. Meine Tante, mit der ich aus diversen Gründen seit vielen Jahren kein Wort jenseits des „Hallo“ auf Familienfeiern mehr wechsle, regte sich letztens bei meiner Mutter über Van der Bellen auf. „Hast gehört, was der schon wieder gesagt hat?“ (lustigerweise genau an dem Tag, an dem Hofer seine verabscheungswürdigen Aussagen über muslimisches Pflegepersonal vom Stapel ließ..) Meine liebe Mama, dankenswerterweise, meinte nur: „Dieses Thema diskutiere ich nicht mit dir, das ist sinnlos, da haben wir unterschiedliche Meinungen.“ Worauf diese Tante, bissig wie so oft, meinte „Ach, gehörst du auch zum Establishment?“ Es finden bereits diese miesen, komplett empathiefreien Wahlkampffloskeln Weg in innerfamiläre Gespräche.

Zum Kotzen find ich das! Zum Kotzen find ich diese ganze Kultur des „sich durch Macht und Ansehen Identifikation erarbeiten“, das einher geht mit einem „dann auf andere herab schauen“. JA, auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen werden unterschiedliche Sprachen gesprochen. Für mich heißt das aber nicht, dass man sich deshalb nicht verstehen kann. Man KANN schließlich nur aus der eigenen Perspektive heraus agieren und argumentieren, aber man DARF dabei die Empathie nicht vergessen. Sich in andere hineinversetzen können und verstehen können, wo bei anderen, die nicht in der eigenen Bubble zuhause sind, ist für mich grundlegend für gesellschaftliches Zusammenleben. Unter meinen Freunden und Bekannten befinden sich eine ehemalige Pornodarstellerin, eine Dragqueen, viele Schwule und Lesben, SchulabbrecherInnen und Uniprofessorinnen, Menschen unterschiedlicher örtlicher Herkunft, unterschiedlicher Hautfarbe, sehr reiche Leute, sehr arme Leute. Als ich einmal mit einer farbigen Freundin über die Mariahilferstraße spazierte, heulte ich am Ende fast, weil ich die Blicke, die sie kassierte, nicht ertragen konnte – mir als großer Blondine begegnen solche Blicke hier einfach nicht. Aber ich bin wirklich froh, dass ich es mir ihr erleben durfte, und mein Zuhause mal durch ihre Augen sehen konnte. Es lehrt nämlich Offenheit. Das haben wir so komplett verlernt, anders kann ich mir den Erfolg von FPÖ und Co. nicht erklären.

Aber durch all das, was gerade auf der Welt passiert, bin ich extrem kampfmüde. Ich fühle mich ausgelaugt und würde die Augen vor all dem am liebsten verschließen. Mir gehts ja gut, mir begegnet nirgendwo in meiner Umgebung Ausgrenzung, ich gehöre keiner einzigen Randgruppe an, vieles, was die FPÖ wohl gerne beschließen würde, käme mir wahrscheinlich sogar entgegen, ohne dass ich es auch nur ansatzweise gut fände.

Kurz: Ich mag einfach nicht mehr. Seit Tagen renne ich mit dem Gefühl herum, einfach nur noch mich in irgendwelche gut erzählten Filme, Bücher und Serien hineinfallen lassen zu wollen, aber bitte lassts mich mit der Realität in Ruhe. Ich will zuhause überlegen, ob und wie ich wiedermal die Wohnung umstelle, und nicht, wie es den Menschen geht, die kein Zuhause haben. Ich stehe im Museum vor Meisterwerken des Barock und der Renaissance, schwelge in Bewunderung, und will nicht dran denken, wie vielen Menschen der Zugang zu Bildung verweigert wird.

Und dann denke ich wieder an meine eigene Diplomarbeit. Ich schrieb über die weiße Rose und die Geschwister Scholl. Als ich die Arbeit schrieb, recherchierte ich in München. Mit Gänsehaut stand ich in der Uni-Aula, in denen sie die Flugblätter runterregnen ließen, ich besuchte am Heimweg den Heimatort von Christoph Hartnagel, das Mitglied der Weißen Rose, das mich besonders faszinierte, weil er bereits Familienvater war, und seine Überzeugungen über sein Vatersein stellte (beziehungsweise miteinander verband, um seinen Kindern eine bessere Welt zu hinterlassen). Und dann denke ich an diese berühmte Aussage von Sophie Scholl:

Gleichgültigkeit ist das Gefährlichste. Und darum wirds jetzt doch noch eine Brandrede aufs Wählen: Es macht einen großen Unterschied, jede einzelne Stimme. Und: Empathisch bleiben. Bitte. Ich bemüh mich auch. Können wir das gemeinsam bitte wenigstens hier in Österreich hinkriegen, ja? Danke. Wir brauchen eine menschlichere Politik. Mehr denn je.

5 Gedanken zu „Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit

  1. Hat dies auf lebendig werden … rebloggt und kommentierte:
    Dieser Beitrag spricht mir aus der Seele, wiewohl ich selbst ausreichend Ausgrenzungserfahrungen habe, finde ich ausreichend Identifikation, um ihn zu teilen.

    Selbst fehlt mir derzeit die Kraft etwas dazu zu verfassen. Eigenes (abgebrochenes) Studium der Politikwissenschaft hin oder her. Neben privater Schwäche, schwächen mich auch die weltpolitischen Um- und Zustände.

    Herzlichen Dank, liebe Nunu, dass du in Worte gefasst hast, wozu ich derzeit nicht in der Lage bin.

    Ich erinnere genau, wie ich selbst dem Abriss der Berliner Mauer mit Anfang 20 im TV folgte. Ein erster Besuch in der Slowakei. Betroffen von deren Armut. Jahre der Unfähigkeit irgendetwas außerhalb des eigenen Überlebens zu verfolgen, folgten. Ohnmacht, ein Trigger, der mich nun auch im Politischen einholt.

    Nunu schreibt am Ende:“Wir brauchen eine menschlichere Politik. Mehr denn je.“ … Dazu ist nichts hinzuzufügen! Danke!

  2. mukolama sagt:

    Liebe Nunu,
    es vergeht inzwischen kaum ein Tag, an dem ich mir nicht denke „Ich mag einfach nicht mehr“. An dem ich mich nicht einfach in einer kleinen Glitzer-Wolke einlullen und die Realität am liebsten ganz ausblenden möchte.
    Mich macht Vieles von dem, was gerade so passiert, einfach nur noch sprachlos.

    Umso mehr danke ich dir für jedes deiner Worte, die so treffend genau das beschreiben, was in mir – und wohl vielen anderen auch – zur Zeit auch vorgeht!

  3. Marlene sagt:

    Hallo Nunu, du hast wirklich treffende Worte gefunden. Mir wird derzeit auch Angst und Bange, nicht nur nach Brexit und der US-Wahl (die letzte dänische war auch schlimm und ich sehe ängstlich der nächsten deutschen Bundestagswahl entgegen!). Wenn man sich mal hinsetzt und das lokale Wurschtblatt liesst oder auf Facebook-Profilen mancher Mitmenschen guckt, begegnen einen Aussagen, die einen mehr als man je wollte nachvollziehen lassen, wie das damals in den 1930ern gewesen sein muss. Ich verstehe einfach nicht, wie man kollektiv so wenig Empathie haben kann – aber es scheint wirklich so zu sein! Die gleichen Leute, die sonst ganz normal nett freundlich sind, äussern plötzlich Sachen…!
    Ich drück euch alle Daumen in Österreich!
    Marlene

  4. policycounts sagt:

    Vielen Dank für deinen wirklich gelungenen Artikel! Ich kann dein Gefühl der Enttäuschung sehr gut verstehen. Mir und vielen meiner Freunde geht es ähnlich. Aber trotzdem,… bitte nicht! Rosa Einhörner sind schön, gut erzählte Bücher und Geschichten gehören zu dem schönsten was Menschen schaffen können, aber bitte gebe nicht die politische Gegenwart auf. Ich will an dich appellieren, gib dem Hass nicht unsere Gegenwart oder er nimmt sich auch die Zukunft.

    Wenn die Unvernünftigen stärker werden dürfen die Vernunftbegabten sich nicht zurück ziehen. Die Lehre, die wir aus den Ereignissen ziehen müssen ist, dass die Friedensgeneration nach 45 etwas verpasst hat. Sie hat verpasst uns allen einzuimpfen, dass Politik ab jetzt zu unserem Alltag gehören muss. Nur die Entfernung der Vernünftigen von der Politik macht es den Populisten möglich ans Steuer zu kommen.

    Ich würde mich wirklich freuen, wenn du mal auf meinem Blog vorbei schaust. Vielleicht kann ich dich etwas inspirieren!

  5. Birgit sagt:

    Danke Nunu – gerade jetzt ist es so wichtig diese Themen anzusprechen und sich nicht von der unfassbaren „Gabalier-Dirndl-Heimat-FPÖ/ÖVP-Werte-Fraktion“ überfahren zu lassen. Ich merke es in meinem unmittelbaren Umfeld wie schwierig es ist für etwas zu stehen und zu vertreten, wenn Dummheit und Ignoranz Ausdruck der „Zuerst -wir“ -Vertreter sind. Aber frei nach Konstantin Wecker:“ Empört euch, beschwert euch und wehrt euch – es ist nie zu spät“ oder “ Stehe auf und sag: NEIN“. Toll, dass du wieder bloggst!

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